Heiko Häselbarth, 27.01.1992


Die pädagogische Bedeutung von Märchen


Ursprünglich sind Märchen nicht für Kinder, sondern für Erwachsene verfaßt worden. In der Anmerkung am Schluß der beiden Bände, der ersten Ausgabe der Grimmschen Märchen von 1812 und 1815, steht, daß diese eher für Wissenschaftler und am Volksgut interessierte Laien, als für Kinder aufgeschrieben wurden. Jacob Grimm schreibt in einem Brief an Achim von Armin: "Das Märchenbuch ist mir daher gar nicht für Kinder geschrieben, aber es kommt ihnen recht erwünscht, und das freut mich sehr." Wilhelm Grimm veränderte dann bereits die zweite Auflage von 1819 in diesem Sinne (mehr kindgerecht bzw. "kindertümlich") und verstärkte diese Züge in den weiteren Auflagen. Er folgte damit einer Tradition der Aufklärung, die erstmals Kindern eine spezielle Art von Literatur, darunter auch Märchen, zuwies. So läßt sich dann auch der Titel "Kinder- und Hausmärchen" erklären, den schon die erste Auflage trägt.

In der Vorrede zur zweiten Auflage heißt es: "Darum geht innerlich durch diese Dichtung jene Reinheit, um deretwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen glänzenden Augen...". Die Brüder Grimm stellen hier eine besondere Affinität (Neigung) der Kinder zum Märchen fest, und aus diesem Grunde wollten sie mit ihren Märchen nicht nur der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen, sondern sie sollten auch als "Erziehungsbuch" dienen. Diese pädagogische Absicht ist jedoch seitdem sehr umstritten. Einer pädagogischen Bedeutung von Märchen kann man entgegenhalten, daß diese unwahr sind und ein erhebliches Potential von Grausamkeiten enthalten. Ich möchte mich nun etwas eingehender mit dem Problem der Grausamkeiten im Volksmärchen beschäftigen.

Da gibt es die Aussetzung und die zum mindesten geplante Ermordung von Kindern, ihre Mißhandlung und Verstümmelung, grausame Strafen für die Bösewichter, schreckliche Todesarten, usw. Nach dem zweiten Weltkrieg ließ z.B. die britische Militärregierung den Druck der Grimmschen Märchen verbieten, weil sie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Grausamkeiten dort und den Greueltaten in den Konzentrationslagern zu sehen glaubte. Vergleicht man aber die Grimmschen Märchen mit anderen nicht-deutschen Märchen, so kann man feststellen, daß diese ebensolche Grausamkeiten enthalten. Es stellt sich dennoch die Frage, ob Märchen aus diesem Grunde überhaupt für Kinder geeignet sind. Man könnte vermuten, daß die Grausamkeiten keine Gefahr wären, da sie nur genannt, niemals aber geschildert werden. Außer bei "Aschenputtel" fließt in keinem Märchen der Gebrüder Grimm Blut. Bei "Aschenputtel" allerdings verrät das aus den Schuhen der Schwestern herausquellende Blut, daß der Prinz die falsche Braut mit sich führt. Das Blut ist also hier Handlungselement, ohne das die rechte Braut nicht gefunden werden kann. Doch im allgemeinen sind Verletzungen und Verstümmelungen im Märchen nicht von Blut und Schmerzen begleitet.

Die grausamen Strafen finden teilweise Entsprechungen in den Rechtsbräuchen des Mittelalters, die allerdings im Märchen noch ins extreme gesteigert sind. Man kann die Grausamkeiten also als eine Widerspiegelung grausamer Wirklichkeit sehen. Sie gehen fast immer von einem harten persönlichen oder gesellschaftlichen Konflikt aus und zeigen dessen Beseitigung. Demnach sollte man Märchen aber erst in den höheren Klassenstufen behandeln. Man könnte auch versuchen die Grausamkeiten durch Änderung des Textes zu eliminieren. "Gereinigte" Märchen jedoch, wie sie verschiedentlich versucht worden sind, haben sich nicht durch- setzen können und scheinen auch nicht die Faszination für Kinder zu besitzen, die noch immer von Märchen im allgemeinen und von den Kinder- und Hausmärchen im besonderen ausgeht.

Eine befriedigende Antwort auf das Problem der Grausamkeiten in Märchen ist noch nicht gefunden. Empirische Untersuchungen haben ergeben, daß sich Erwachsene noch ziemlich genau an die im Märchen genannten Grausamkeiten erinnern. Ist dies jedoch schon ein Beweis dafür, daß sie diese als Kind wirklich so empfunden und ein seelisches Trauma dadurch erlitten haben? Damit ist nur bewiesen, daß frühkindliche Eindrücke erstaunlich lange im Gedächtnis haften.

In seinem Buch: "Kinder brauchen Märchen" vertritt Bruno Bettelheim die These, daß die Todesstrafe, die der böse Gegenspieler im Märchen erleidet, nicht schädlich, sondern geradezu notwendig für die psychische Stabilität des Kindes sei. Das kindliche Weltbild braucht nach Bettelheim die Zuordnung zu Gut und Böse und die Ausmerzung des Bösen, um das Chaos in seinem Innern zu ordnen und persönliche Sicherheit zu gewinnen. Das Kind projiziert demnach seine inneren Ängste auf die negativen Figuren, welche dann durch die Kräfte des Guten, mit denen es sich identifizieren kann vernichtet werden. Voraussetzung für die positive Wirkung von Märchen auf die Verarbeitung von Aggressionen und Ängsten des Kindes ist allerdings die Fiktionalität des Textes, also das erdachte Gebilde. Diese ist durch den abstrakten und verfremdenden Stil des Märchens gegeben und dem Kinde durchschaubar. Schon vier- oder fünfjährige Kinder erkennen diese Fiktionalität, während sie nicht dazu in der Lage sind, wenn Geschichten in ihrer Wirklichkeit spielen. Das ästhetische Gebilde des Märchens ermöglicht gleichermaßen Identifikation wie Abstand.

In empirischen Untersuchungen wurde außerdem festgestellt, daß nicht alle Inhalte, die der Erwachsene als grausam begreift, auch vom Kinde als bedrängend empfunden werden. Märchen mit besonders grausamen Strafen am Schluß wie "Aschenputtel" oder "Schneewittchen" fanden Kinder eines zweiten Schuljahres besonders schön, während "Der Wolf und die sieben Geißlein" und "Rumpelstilzchen" bei ihnen Angstgefühle auslösten. Man kann schlußfolgern, daß Grausamkeiten im Märchen dem Vorschulkind sowie dem Kind der ersten Schuljahre keinen seelischen Schaden zufügen, solange sie nicht ausgemalt oder dargestellt werden. Sie allerdings zum Gegenstand des Unterrichts zu machen, um daran z.B. die Historizität der Texte zu verdeutlichen, halte ich zumindest für die Primarstufe für bedenklich. Bei der Behandlung von Märchen sollte man Texte, die ausgesprochen unheimlich und angstmachend sind nicht wählen, sondern lieber Glücksmärchen mit gutem Ausgang oder Schwankmärchen.

Aus pädagogischer Sicht werden außerdem Märchen oft abgelehnt, da in ihnen ein Mittel gesehen wird, Kinder zu Gehorsam, Anpassung, Weltfremdheit und Passivität zu erziehen. Ein weiters Argument gegen Märchen ist, daß Kinder in ihnen mißhandelt und ausgebeutet werden. Das Kind sei hier das letzte Opfer von Herrschaft und Repression, indem die Eltern den Druck der Gesellschaft auf das Kind übertragen. In den Grimmschen Märchen könne man eigentlich nur von einem bedrückenden Leben der Kinderfiguren sprechen. Eine besondere Kritik erfährt das Rollenverständnis der Frauen und Mädchen: man glaubt, den Kindern werde hier ein Vorbild der Demut, des Gehorsams und der Passivität vermittelt. Die Autorität der Eltern, insbesondere des Vaters bleibe unangetastet.

Tatsächlich ist in manchen Märchen der biedermeierliche, nach damaliger Auffassung kindertümliche Stil und die Betonung des 'Lieben' und 'Braven' anzutreffen. Eine Verallgemeinerung halte ich jedoch nicht für zutreffend. Außerdem sind Märchenhelden nur selten passiv. Sie lösen sich von Heimat und Elternhaus, gehen auf Wanderschaft und bestehen schwierige Abenteuer. Die von den Märchen entworfene Welt ist kein Schlaraffenland, sondern ein Reich der Aufgaben, des Handelns, des Geschehens. Märchenhelden sind, wie in "Das tapfere Schneiderlein" trotz ihrer meist schlechten Ausgangsposition mutig und optimistisch. Selbst die Tiere ergeben sich nicht in ihr Schicksal. Als Beispiel kann hier das Märchen "Die Bremer Stadtmusikanten" genannt werden. Auch die Frauen und Mädchen sind keineswegs so passiv, wie häufig behauptet wird. Zwar können sie nicht gegen Riesen und Drachen kämpfen, aber sie sind klug, listig und ausdauernd. In vielen Märchen wie z.B. "Aschenputtel" oder "Schneewittchen" handeln nur die weiblichen Figuren, sowohl böse als auch gute, das männliche Geschlecht erscheint nur als machtloser Vater oder am Schluß in Gestalt des Prinzen. In "Die Schneekönigin" oder "Hänsel und Gretel" übernehmen Mädchen sogar die Rettung des Jungen. Man könnte das sogar emanzipatorisch nennen - ein Zeichen besonderer Passivität ist es jedenfalls nicht.

Der oft unterstellte erzieherische Effekt im Märchen durch die Darstellung der Familie als primärer sozialer Bezugsraum mit hirarchischem Aufbau ist keineswegs gegeben. Tatsächlich enthalten z.B. die Grimmschen Märchen eigentlich nirgends die Darstellung einer intakten Familie. In den meisten Fällen werden Konflikte innerhalb der Familie zum Anlaß genommen, daß das Kind oder der junge Mensch diese verläßt. Indem gezeigt wird, wie die Kinder das Elternhaus verlassen und ihren eigenen Weg gehen, kann auch keinesfalls von einer Ausrichtung der Kinder zur Übernahme der elterlichen Funktionen ausgegangen werden. Natürlich gibt es auch Beispiele von Gehorsam, der belohnt wird (z.B."Der Froschkönig"). Hier handelt es sich aber nicht um die Vermittlung von Tugenden wie z.B. Artigkeit, sondern um vernünftige pädagogische Grundsätze. Als Beweis für die autoritäre Gesellschaftsstruktur des Märchens werden oft Maxime wie Bescheidenheit und Dankbarkeit, Freigebigkeit und Opferbereitschaft genannt. Diese Maxime sind jedoch nicht unbedingt negativ zu bewerten. Es gibt auch genug Beispiele, in denen das Gebot übertreten wird, etwa die verbotene Tür geöffnet wird.

In erster Linie ist durch die Auswahl der Texte durch den Lehrer die Möglichkeit gegeben, bestimmte Akzente zu setzen. Es fragt sich natürlich, ob man Märchen überhaupt und die Kinder- und Hausmärchen insbesondere als "Erziehungsbuch" auffassen soll, welches Vorbilder und pädagogische Lehren vermittelt. Eine Übertragbarkeit des Märchengeschehens auf die eigenen Erfahrungen des Kindes ist nur sehr bedingt gegeben, dazu ist die Welt, in der sie spielen, zu fern und ihr Stil zu abstrakt. Ihre Wirkung liegt auf einem anderen Gebiet. Walter Killy hat sie so beschrieben: "In der 'Gattung Grimm' ist der ganze Mensch angesprochen wie in keinem literarischen Zeugnis sonst. Alle Rationalisierungsversuche sind nur ein nachträglicher Versuch, das zu begreifen, was vordem die Märchenerzähler und bis heute die Kinder in den Märchen fanden: eine ganze Welt."

Ich möchte nun noch etwas zum sogenannten Märchenalter sagen. Das Märchenalter war von Charlotte Bühler nach ihrer bereits 1917 durchgeführten Untersuchung etwa vom vierten bis zum achten Lebensjahr festgelegt worden. Die Struktur und die Aussageweise des Märchens entsprechen demnach der Psyche des Kindes in diesem Alter. Man muß jedoch hierbei beachten, daß das Kind seine Märchenkenntnisse und seine Märchenlektüre ja erst durch die Vermittlung Erwachsener erhalten hat. Bühlers Untersuchungen bestätigen also nur eine gewisse Neigung des Kindes zu Märchen in einem bestimmten Lebensalter. Der Begriff des Märchenalters hat allerdings dazu beigetragen, Märchen einem bestimmten Kindesalter zuzuordnen und sie damit zum Unterrichtsgegenstand der Primarstufe zu machen. Im Grunde liegt dem Begriff des Märchenalters das phylogenetische Gesetz zugrunde, das die Reformpädagogik zu Beginn unseres Jahrhunderts von der biologischen und psychologischen Entwicklung auf die literarische übertrug. Nach diesem Gesetz entspräche das frühe Kindesalter dem magischen Zeitalter der Völker, in dem die Märchen entstanden sind. Danach folgte nach dieser Auffassung das "Sagenalter", während Charlotte Bühler danach das "Robinsonalter" ansetzt. Eine solche Zuordnung bestimmter Texte zu bestimmten Altersstufen, bei denen Entsprechungen zwischen entwicklungsgeschichtlichen Stufen und literarischen Gattungen vorgenommen werden, ist aber nicht möglich, da literarische Gattungen nicht biologischen, sondern historischen Gesetzen unterworfen sind.

Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß Kinder von Märchen fasziniert sind und daß das besondere Gründe haben muß. Dies ist damit zu erklären, daß Märchen gewisse Strukturelemente aufweisen, die dem kindlichen Rezipienten entgegenkommen. Das sind die Bildhaltigkeit, die Beweglichkeit und der Abwechslungsreichtum seiner Handlung, seine magischen Bestandteile und die Überdeutlichkeit seiner Archetypen. Abgesehen von dem Wesen und der Struktur des Märchens ist die Affinität des Kindes zum Märchen auch durch die psychischen Bedürfnisse des Kindes erklärbar. Märchen helfen dem Kinde bei der Ausbildung seiner Phantasie, sie vermitteln in bildhafter Weise Welt und geben Modelle der Lebensbewältigung. Den unbewußten Ängsten des Kindes wird in symbolischer Form Gestalt verliehen. Indem die bösen Gestalten im Märchen überwunden werden, erfährt das Kind, daß existenzbedrohende Kräfte besiegt werden können. Dabei ist es wichtig, daß der Märchenheld ein gewöhnlicher Mensch ist, häufig sogar ein zurückgesetztes Kind, mit dem es sich identifizieren kann.


Literaturnachweis

Therese Poser: "Das Volksmärchen" (Theorie - Analyse - Didaktik), in der Reihe: "Analysen zur deutschen Sprache und Literatur", R. Oldenbourg Verlag, München, 1980.

M. Schrader: "Epische Kurzform - Theorie und Didaktik", Scriptor-Verlag, 1980.